Anläßlich des 90. Geburtstages unseres hochverehrten Autors Dieter Schiller kann die Laudatio nicht wirklich kurz ausfallen:

Die Fülle des Materials, das zu sichten und zu würdigen ist, macht hilflos. Behelfen wir uns also bei dem simpelsten Hilfsdienst, bei Wikipedia. Nach einem relativ ausführlichen Lebenslauf und einer noch umfangreicheren Liste von Veröffentlichungen fassen die ganz zuletzt stehenden „Kategorien“ den Artikel Dieter Schiller folgendermaßen zusammen: „Germanist, Träger des Banners der Arbeit, Privatgelehrter, Deutscher, geboren 1933, Mann“. Beim ersten Lesen fand ich das lediglich komisch, wenn nicht denunziatorisch. Beim Drüber-Nachdenken schien es mir geeignet, die trockenen Kategorien mit Leben zu füllen und so das negative Image zu eliminieren.

„Träger des Banners der Arbeit“ heißt doch nur: Er ist in der DDR ausgezeichnet worden. Er hat sich mit seiner Arbeit, seiner Leistung eingebracht. Und das hat Dieter Schiller nie geleugnet. Nach dem Germanistikstudium wurde er Assistent und dann Oberassistent an der Humboldt-Universität und musste sich einarbeiten in die Literaturepoche des 18. Jahrhunderts. Das waren Lehrjahre und ihm machte die Arbeit mit Studenten und dem Sturm und Drang und der Klassik Spaß. Als sein Professor Hans-Günter Thalheim an die Akademie der Wissenschaft wechselte, nahm er ihn mit, und Schiller musste sich neu orientieren. Vor allem an dem dann gegründeten Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) brachte er sich ein, was auch hieß, neue Gebiete zu erarbeiten. Das war oft Kursänderungen in der Kulturpolitik geschuldet, auch plötzlich fehlenden Spezialisten für die verschiedenen Projekte. So erwarb sich Dieter Schiller mit den Jahren den Ruf Fachmann für DDR-Lyrik, für linke Literatur des 20. Jahrhunderts, für Exilliteratur und noch einige andere Gebiete zu sein. Oft und schnell musste er sich in neue Sachgebiete einarbeiten und wie üblich war er eingebunden in Gemeinschaftsprojekte, etwa in die Literaturgeschichte, in das Lexikon sozialistischer Literatur, in das große Exilprojekt, in die Debatte und Konzeption zum Erbe, in ein Vorhaben zu großen Romanen des 20. Jahrhunderts. Dazu war er Forschungsgruppenleiter, zeitweilig Parteisekretär, zeitweilig stellvertretender Institutsdirektor. Das bedeutete auch: Sitzungen, Debatten, Plandiskussionen, Leitungsarbeit. Dieter Schiller bezeichnet diesen Abschnitt als die Achterbahn seines Lebens und konstatiert: „Mit Erstaunen musste ich wahrnehmen, dass ich bei vielen Kollegen als Dogmatiker galt, bei den Parteiinstanzen jedoch als Revisionist, je nach dem Blickwinkel der Urteilenden.“(Autobiographie: „Am Rand mittendrin. Achtzig Jahre am Schreibtisch und im wirklichen Leben. Autobiographische Skizzen“, Gransee 2021) Summa summarum: Es gab immer viel Arbeit und ein Auf und Ab in der Karriere. Die Auszeichnung Banner der Arbeit war ehrlich und redlich verdient.

So ist es kein Wunder, dass mit der Abwicklung des Instituts auch die Abwicklung eines seiner Repräsentanten erfolgte. „Privatgelehrter“, das war keine Entscheidung eines skurrilen und schmollenden Alten und kein Rückgriff in Gepflogenheiten des geliebten 18. Jahrhunderts. Nicht Weltfremdheit oder Desinteresse an Öffentlichkeit bestimmten diesen Schritt. Es war die aus der Situation entsprungene Reaktion – keine Universität oder Institution wollte den auf vielen Gebieten bewanderten Mann einstellen. Dieter Schiller gab nicht auf, im Gegenteil: er intensivierte seine Arbeit und gab der Funktion Privatgelehrter neue Züge. Frei von Leitungsarbeit, entbunden der Abstimmungen innerhalb des Projekt-Kollektivs legte er los, was nicht heißt, dass er nicht mit dem Zusammenbruch der DDR und des Sozialismus ein gebranntes Kind war, das alles aus der Vergangenheit schmerzlos hinter sich ließ. Er machte es sich dabei nicht leicht und resumierte doch noch nach vierzig Jahren in seiner Autobiographie: „Vierzig Jahre lang habe ich in einer Utopie gelebt, der DDR, wie ich sie mir wünschte. Ich möchte das in meinem Leben nicht missen. Denn es war keine Illusion, sondern Hoffnung.“ Er machte weiter, ohne die Methode und das Konzept seines Arbeitens verändern zu brauchen. Johannes R. Bechers Begriff der Literaturgeschaft nutzend und mit Leben erfüllend, führte er Prinzipien, die am ZIL entwickelt worden waren, weiter, das heißt, er untersuchte und stellte dar die Wechselverhältnisse von Autor, Werk und Leser mit all den vermittelnden Instanzen und Institutionen, unter denen literarische Kommunikation zustande kommt. „Diese Betrachtungsweise begreift das literarisch-sprachkünstlerische Werk als Zentrum, sowohl in seiner produktionsästhetischen wie in den rezeptionsästhetischen Aspekten. Dabei gilt es, die Historizität des Werks zu beachten, seinen gesellschaftlichen Kontext, seine Genesis und Struktur einschließlich der Entwicklung des literarischen Genres.“(„Meine ungeschriebenen Bücher“- 2011, in „Einzelheiten und Beispiele“, Gransee 2012)

Eine solche Betrachtungsweise lässt viele Formen von Texten zu. Sowohl die gründliche Werkananlyse, aber auch Einzelaspekte sind möglich. Dieter Schiller nutzt sie alle. Er nennt sich „literaturwissenschaftlicher Publizist“, und das trifft es. Schon immer hat er nicht nur für Eingeweihte oder eine kleine Schar von Literaturexperten geschrieben. Seine Artikel waren sowohl in Fachzeitungen als auch Tageszeitungen präsent. Faktisch als Aufklärer, Propagandist für Interessierte brillierte er im „Neuen Deutschland“ (Franz Kafka, Rene Schickele, Alfred Wolfenstein, Albert Ehrenstein und andere) oder in der Berliner Zeitung (Robert Musil) mit Beiträgen zu Literaten, die die die normalen Leser kaum einmal gehört hatten. Das bedingte auch eine verständliche Sprache, kein Germanisten-Latein. Sein breites Reservoir an behandelten Namen und Problemen hängt zusammen mit seiner „unausrottbaren Lust an neuen Gegenständen“. (Vorsätze, in „Miszellen und Aufsätze zur Literatur. Namen und Bücher“ , Gransee 2018) Dabei kam es auch vor, dass er sich – souverän wie immer – auch in Gebiete wagte, die nicht „seine“ waren, man denke nur an seine Filmkritiken oder auch einen längeren Aufsatz zu Hans Grimm.

Hat er schon im ZIL so gründlich wie möglich Archivmaterial gesucht und verwendet, setzt nach der Wende ein noch intensiveres Studium und Erschließen neuer Quellen ein. Privat reisen er und seine Frau Leonore Krenzlin nach Russland und bergen mehr oder weniger nun zugängliches wertvolles Material vor allem für die Exilfoschung. Ähnliches gilt natürlich auch für nun offene Archive in Deutschland. Es gibt kaum eine Debatte von Belang, keine Zeitschrift oder Briefwechsel, die Dieter Schiller und Leonore Krenzlin nicht erschlossen. Derart reich, machen sie sich souverän. Der Privatgelehrte Schiller ist eine Institution. Keine Forschung zu antifaschistischer Literatur kommt drumrum, Schillers Arbeiten als Quelle, ja sogar oft als Fundament zu nutzen. Der Publizist schafft sich eine Bühne, zuerst und intensiv im Vortragsprogamm und der Broschürenpublikation im Berliner Bildungsverein „Helle Panke“. Wieder liegt ihm an einem interessierten Publikum, das nicht immer Fachwissen hat. War er früher listig gewesen, die Leser mit ihnen meist unbekannten oder auch für die Kulturpolitik problematischen Autoren (Franz Kafka, Robert Musil, Armin T.Wegener, Rene Schickele, Gustav Landauer) bekannt zu machen, ging es ihm nunmehr oft darum, ins Vergessen zu geratende Autoren und Ereignisse wachzuhalten. Neben der „Hellen Panke“ nutzt er vor allem Auftritte zu wissenschaftlichen Konferenzen und Jubiläen. Immer ist er gründlichst vorbereitet, hat sein Material unter bestimmten Gesichtspunkten formiert. Er wiederholt sich selten, auch wenn er zu einem Autor mehrmals spricht oder schreibt. Das Maximum seines Wirkens galt wohl Johannes R. Becher. Im Sammelband „In der Reihe und außer der Reihe. Johannes R. Becher“ (Buskow 2019) sind allein sechzig Beiträge seit 1960 verzeichnet. Zu einer Becher-Biographie ist es nie gekommen, stattdessen konnte er ausführlicher auf einzelne Aspekte eingehen. Es waren „Einzelheiten und Beispiele“, so der Titel einer 2012 in Gransee erschienenen Publikation, die ihn interessieren, sind es nun einzelne Romane oder Gedichte, Publizistik, Reden, aber auch nur einzelne Aspekte in Briefen. Dies ist ein Prinzip seines Schaffens. Mehrmals galt sein Interesse Erich Mühsam, Arnold Zweig, Klaus Mann, Stefan Heym u.a., und immer wieder schreibt er keine Biographie, sondern pickt sich besondere Gesichtspunkte heraus, vertieft und bereichert so die Bilder seiner Protagonisten. So ist auch ein ganzes Buch zu Willi Münzenberg( „Willi Münzenberg und sein Umgang mit deutschen Intellektuellen. Versuche einer Annäherung“, Gransee 2021) keine Gesamtsicht, sondern die Untersuchung einer besonderen Leistung Münzenbergs – dem Umgang mit deutschen Intellektuellen – gewidmet. So kann er gründlicher diesem einen Aspekt nachgehen. Aber es sind nicht nur die hier genannten bekannteren Autoren, das besondere Verdienst Dieter Schillers ist es, in die Peripherie geratene Schriftsteller hervorzuholen. Gustav Landauer, Rene Schickele, Maximilian Scheer, Kurt Kersten, Rudolf Leonhard – wo, wenn nicht bei Dieter Schiller, ist Substanzielles über sie zu finden?

Er betont in seiner Autobiographie, dass seine Auswahl der Themen auch einen indirekten Bezug zu seinem Leben hat. So ist es kein Wunder, dass sich unser Privatgelehrter intensiv mit der Kulturpolitik der DDR auseinandersetzte. Es war die Zeit, da er das Scheitern der DDR für sich überdachte und überwand. Zur DDR-Literatur hatte er schon immer geschrieben, nun interessierten ihn als eine Art Selbstauseinandersetzung, obwohl er nicht direkt mit den konkreten Ereignissen involviert war, die Machtverhältnisse zwischen Künstlern und Politik. Im 2003 erschienenen Buch „Der verweigerte Dialog“ (Berlin 2003) widmete er sich – wiederum an einzelnen Beispielen – unter anderem der Kulturdebatte nach dem XX. Parteitag, einer Kritikerkonferenz zum Schriftstellerkongress, dem Donnerstagskreis im Klub der Kulturschaffenden. Wieder vorzügliche Archivarbeit, wiederum Einzelheiten, die auf ein Ganzes zielen. Gleichzeitig verfolgte er die „alten“ Forschungsgebiete weiter, immer wieder Exil, immer wieder antifaschistische Autoren und Positionen, immer wieder neue Gesichtspunkte.

2008 fand er in dem kleinen Verlag Edition Schwarzdruck eine Heimstatt. Zwölf Bücher sind seitdem erschienen. Bereits Gedrucktes, Unveröffentlichtes, Überarbeitetes, Neues. Es sind zumeist Lesebücher im besten Sinne. „Im Widerstreit geschrieben“ (2008) ist das erste und eins von Dieter Schillers Lieblingsbüchern. Schon der Titel ist doppeldeutig: Bestimmt meint er die Haltung der im Buch vertretenen Autoren zu ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft. Aber vielleicht zielt er auch auf das Verhältnis des Autors Dieter Schiller zur Art und Weise der Produktion und Rezeption seiner Texte. Beginnt der Band mit Trauerarbeiten, die – am Beispiel von Johannes R. Becher, Arnold Zweig, Alfred Döblin, Arthur Koestler und Manes Sperber – Krisen der sozialistischen Bewegung und sozialistischen Engagements am Beispiel von Entscheidungen einzelner verfolgen, findet sich gleich danach unter der Überschrift Rückblick der im Band längste Artikel zu Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, ein brillanter Essay voller tiefgründiger Gedanken zu weltanschaulichen Quellen und Positionen, zur Romanform, zur Stellung in der Zeit. Geschrieben in den sechziger Jahren als ein Beitrag zu einem Roman-Projekt mehrerer Kollegen, das – zwar fertiggestellt – nie die Öffentlichkeit erreichte. Zu viel Moderne, zu wenig Sozialismus und Gegenwart lautete damals das vernichtende Urteil der Zensoren. Die Herausgeber waren geschockt, aber schlussendlich die Verlierer. Dieter Schiller hat sehr an seinen Beiträgen zu Robert Musil und Rainer Maria Rilke gehangen. Dass sie nun doch noch publiziert wurden, ist ihm Genugtuung und Freude.

Wie geschickt er den Widerstreit versteht, zeigt sich in weiteren Beispielen. War in der DDR lange Zeit offizielle Meinung, dass der Bund proletarisch revolutionärer Schriftsteller Zentrum und ziemlich alleiniger Repräsentant linker Literatur war, beschreibt Dieter Schiller – ohne große Polemik – die verschiedenen vor und neben dem Bund existierenden Strömungen und Wechselfälle der Entwicklung. Auch die in der DDR-Germanistik vorherrschende Sicht, unter anderem linksbürgerliche Schriftsteller am angeblich noch nicht Erreichten wahrer sozialistischer Qualität zu messen, widerspricht Dieter Schiller in seinen Texten nachdrücklich. Er sucht immer das Besondere an der Leistung seines Protagonisten, er stellt die Kämpfe und Widersprüche dar. Nie lässt er, wie er sagt, „das Janus-Antlitz unseres Zeitalters“ aus den Augen. Sein Widerstreit setzt auf Bereicherung und auf den Nachweis des Widerspüchlichen, dem Anzweifeln von zu einseitigen, vereinfachenden Sichten. In seiner Autobiographie behauptet er als Gesamtbilanz seines Lebens „ein bruchstückhaftes Lebenswerk als Wissenschaftler“, dem ich heftig widerspreche. Auf diesem Gebiet hat er keine Trümmer geschaffen, sondern Bausteine geliefert.

Enden will ich mit einem für einen Germanisten und Privatgelehrten seltenen Zug. Nicht nur, dass Dieter Schiller das stille Kämmerlein, wenn es mal kein Archiv ist, meidet und das Offene, den Dialog sucht. Er ist nicht nur privat ein geselliger Mann, er versteht es, diese Eigenschaft auch seinem Fach zugute kommen zu lassen. Auf Hiddensee zur Urlaubszeit findet sich – federführend von Dieter Schiller – seit 2003 eine Gruppe von Goethefreunden zusammen, die jährlich zu Goethes Geburtstag die Parodie einer Literaturgesellschaft zelebriert. Freilich geht es auch da nicht ohne Vorträge und ohne gediegenes Wissen.(„Unernste Betrachtungen zur literarischen Klassik“, Gransee 2011„Gedankenspiele mit Goethe“, Gransee 2016, „Goethe-Lektüren vorwiegend heiter“, Gransee 2022) Aber die Themen sind heiter. Ob Goethe wohl was mit der Herzogin-Mutter gehabt hat oder wie Zeitgenossen ihn schmähten und und. Getrunken und gesungen wird auch dabei. Wahrlich selten – ein Privatgelehrter mit Humor! Ich bin sicher, auch mit über Neunzig, werden ihm die Themen nicht ausgehen.

Christel Berger