Sieger leben in Deutschland

Fragmente einer ungeübten Rückschau
Zum Alltag sowjetischer Besatzer in Ostdeutschland 1945- 1949

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Vieles wird berichtet und so manches propagiert, wie sich denn in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Verhältnisse zwischen den sowjetischen Besatzern und den besiegten und/oder befreiten Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone gestalteten. Je länger das aber zurückliegt, umso weniger weiß man tatsächlich darüber. Der „großen Politik“ kann man noch einigermaßen auf die Spur kommen, dem alltäglichen Leben wurde bisher noch nicht wirklich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und die Zeitzeugen werden immer rarer, Legendenbildung ist Tür und Tor geöffnet. Die Historikerin Elke Scherstjanoi hat sich dieser Thematik angenommen. In diesem Band erscheinen eine ganze Reihe Erzählungen sowjetischer Besatzer in unterschiedlichsten Funktionen, die von ihren jeweils ganz individuellen Erfahrungen und Erlebnissen mit den Deutschen in diesem Ostdeutschland handeln. Ergänzt werden diese Schilderungen durch eine reichhaltige Sammlung von historischen und häufig (zumindest hierzulande) unveröffentlichten Fotos aus diesen Jahren, die von sowjetischen und deutschen Fotografen gemacht wurden und ebenfalls viel vom damaligen „normalen“ Alltag zeigen. Ein ungewöhnlicher Blick aus einer ungewohnten Perspektive auf letztlich friedenstiftende, menschliche Begegnungen vor 75 Jahren.
Edition Schwarzdruck 2020 • 21 x 21 cm • 236 Seiten • Hardcover mit Leseband mit 152 teils farbigen Abbildungen ISBN 978-3-96611-005-1 • 27 €
Dr. habil. Elke Scherstjanoi, geboren 1956, ist Zeithistorikerin. Glückliche Kindheit im Erzgebirge, Studium der Geschichte in der Sowjetunion, 1980 bis 1991 am Zentralinstitut für Geschichte der AdW der DDR, 1986 Promotion, seit 1994 am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, 2010 Habilitation an der TU Chemnitz, Lehraufträge bis 2019 in Deutschland und Russland, Forschungen zur Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Hauptinteresse: sowjetische Einflüsse, interkulturelle Begegnungen.

Ungeübte Rückschau
Ausnahmezustand und Pandemie

Später, aber beträchtlicher Erkenntnisgewinn: Elke Scherstjanois Interviews mit sowjetischen Besatzungsoldaten.

Von Lothar Zieske in der „Jungen Welt“ vom 1. 3. 20121

Elke Scherstjanoi ist in der DDR aufgewachsen, hat in der Sowjetunion studiert und ihre akademische Laufbahn 1988 mit einer Dissertation A an der Akademie der Wissenschaften der DDR begonnen. Für Historikerinnen und Historiker mit einer Vorgeschichte in der DDR ausgesprochen untypisch, konnte sie 1994 Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte in München werden und sich 2010 an der TU Chemnitz habilitieren. Ihre Arbeiten befassen sich durchweg mit der deutsch-sowjetischen Geschichte – und dies aus doppelter Perspektive (so etwa mit deutschen Kriegsgefangenen und der sowjetischen Verwaltung in der SBZ/DDR). Ihre neueste Veröffentlichung gehört in denselben Themenbereich.
Der Titel kann unterschiedliche Reaktionen auslösen: Diejenigen Deutschen, die das Kriegsende 1945 als Niederlage und nicht als Befreiung ansehen, werden ihn als Provokation empfinden. Deren Sicht dürfte schwer zu korrigieren sein, – zumal sich in den vergangenen 75 Jahren eine Reihe von Klischees über die Rote Armee in der öffentlichen Meinung vor allem Westdeutschlands festgesetzt haben. Für diejenigen aber, die wissen möchten, wie sowjetische Armeeangehörige und Verwaltungspersonen in der SBZ gelebt haben, enthält das Buch lebendiges Anschauungsmaterial. Scherstjanoi hat in den Jahren 2002 bis 2009 Interviews mit Personen aus den Jahrgängen 1919 bis 1940 (mit einer Ausnahme) selbst geführt. Sie werden durch eine sorgfältige, faktenreiche Einführung erschlossen. Außerdem sind die erläuternden bzw. korrigierenden »Randbemerkungen« (im wörtlichen Sinne) zu den Interviews sehr hilfreich. Zur Veranschaulichung dienen umfangreich dokumentierte Fotos, die teils in deutschen Ateliers, teils als private »Knipsbilder« entstanden sind.
Die Berichte sind teils stark berufsbezogen (zum Beispiel: Militärstaatsanwalt und Historiker) orientiert, wobei die Herausgeberin hervorhebt, dass der Schwerpunkt, den sie auf den Alltag zu legen versucht hat, den Interviewten ungewohnt war. Am ehesten konnten selbstverständlich die beiden Personen, die als Kinder mit ihren Eltern in der SBZ gelebt haben, dieser Erwartung entsprechen. Erstaunlich ist, wie lebendig für sie nach mindestens 55 Jahren die Erinnerung immer noch ist. Die Meinungen, die geäußert werden, sind so unterschiedlich, dass sie – was meines Erachtens ein Vorteil ist – nicht auf einen Nenner gebracht werden können. Daher nur einige herausgegriffene Beispiele: Mich überraschte, wie häufig Verhaltensweisen und Eigenarten »der Deutschen«, die auch als eher problematische »Sekundärtugenden« betrachtet werden können (Ordnung, Organisationsfähigkeit, Sauberkeit), positiv hervorgehoben werden. Häufig werden auch kulturelle Unterschiede gegenüber der Sowjetunion benannt, die in Deutschland in abwertender Absicht hervorgehoben werden. Der Erkenntnisgewinn, der aber nicht nur auf einer positivistischen inhaltlichen Ebene entsteht, scheint mir beträchtlich. An allererster Stelle steht für mich die Vermittlung dessen, was der deutsche Angriffskrieg gegen die UdSSR in den Familien der Interviewten und bei diesen selbst angerichtet hat; die Berichte von Soldaten und von Krankenschwestern ergänzen sich eindrucksvoll.
Wichtig ist aber auch die Möglichkeit, an konkreten Beispielen nachzuvollziehen, was die Nachkriegskampagne gegen »Kosmopolitismus« für die in die Sowjetunion Zurückgeführten bedeutete: Diskriminierung im eigenen Land von ehemaligen kriegsgefangenen Sowjetsoldaten nach Kriegsende; damit zusammenhängend auch: Antisemitismus. Es wird offen über Sinn und Unsinn von Demontagen gesprochen; es geht immer wieder auch um den Zusammenhang von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung – nicht nur, aber vor allem gegen Frauen – und Kriegserfahrung. Hier war für mich die Rolle von Banden hinter (!) der Front neu.
Das alles spricht meines Erachtens für das Buch. Das größte Problem des Bandes scheint mir aber zu sein, dass er erst so spät erscheint – und dies nicht wegen der möglicherweise verschobenen Erinnerungen. Wie in der Einleitung zum zweiten Interview erwähnt wird, hat es über Jahrzehnte in der Bundesrepublik einen Streit um den Begriff »Befreiung« gegeben. Aber das ist noch viel zuwenig gesagt: Es waren Klischees entstanden, die ihre Basis zwar in Tatsachen hatten, die dann aber von interessierter Seite angereichert und verdreht worden waren, um deutsche Schuld kleinzureden. Die Folge: Wer ihnen – nicht pauschal, sondern nur einschränkend – widerspricht, erscheint vielen von vornherein als Verharmloser von Vergewaltigungen (hier trifft die männliche Form in der Regel zu). Die interviewten Personen gehen aber auch diesem Thema nicht aus dem Weg. Ihre Haltung ist nirgends so, dass sie sie abstreiten würden (in dieser Hinsicht das Äußerste: »Wo ich das Sagen hatte, hat es das nicht gegeben.«) Und trotzdem mutet der exemplarische Versuch der Herausgeberin, »Ikonen der Abscheu« in Frage zu stellen, angesichts der vorhandenen Klischees als von vornherein zum Scheitern verurteilt an, zumal in einer Zeit, in der die Negativikone »Putin« das vorherrschende Russland-Bild bestimmt.
Elke Scherstjanois Versuch, Klischees geradezurücken – nicht zuletzt dadurch, dass auch vermeintliche Bestätigungen zur Sprache kommen – erscheint mir trotzdem lohnend zu sein. Die Alternative wäre, die Klischees unhinterfragt hinzunehmen.

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